Marie Jahoda: Das Unsichtbare sichtbar machen

Die Biografie von Marie Jahoda (1907-2001) erklärt, warum sie immer unter einem breiteren, oft auch politischen Blickwinkel geforscht hat. Aufgewachsen und sozialisiert im Roten Wien der 1920er-Jahre, engagierte sie sich schon mit fünfzehn Jahren beim Verband sozialistischer MittelschülerInnen. Porträt einer Wissenschaftlerin.

Eines ihrer ersten politischen Interessenfelder: Gerechte Bildungschancen unabhängig von der Herkunft. Das Thema verfolgte sie so energisch, dass sie als Rednerin beim Maiaufmarsch der Wiener Sozialdemokratie dazu auftrat. Die Folge der Rede: eine Betragensnote im Abschlusszeugnis. Diese Begebenheit steht für ihren Mut bereits als Jugendliche, für eine Sache öffentlich einzutreten. Damals kam sie auch in Kontakt mit den führenden Sozialdemokraten der Zeit, wie Otto Neurath und Otto Bauer.

Bildungsarbeit ist das Wichtigste

Die Idee, dass „es nichts Wichtigeres als die allgemeine Erziehung gibt“, war Jahodas Motivation für ihre Studienwahl. Sie belegte das Fach Psychologie an der Universität Wien und begann eine Ausbildung zur Volksschullehrerin. Ihr eigentliches Lebensziel zu der Zeit war, Unterrichtsministerin zu werden, um am Aufbau einer neuen, sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft mitzuwirken. Sie war während ihrer Studienzeit stets in der politischen Bildungsarbeit aktiv, jedoch spitzten sich in den 1930er-Jahren die politischen Verhältnisse in Österreich immer weiter zu. In der Diktatur von Engelbert Dollfuß wurde sie mit ihrem Engagement für die Sozialdemokratie zuerst in die Illegalität und nach der Inhaftierung 1937 ins Exil gezwungen.

Aktivistin und Sozialforscherin

Die Aktivistin Marie Jahoda ist erst durch den politischen Umsturz in Österreich und ihre Vertreibung zur Sozialforscherin geworden. Die Prägung durch das politische Engagement und den damit verbundenen Fokus auf die realen Probleme der Gesellschaft hat sie in ihren Forschungsarbeiten immer beibehalten. In einem Artikel für die damals verbotene sozialdemokratische Schrift „Der Kampf“ schrieb sie unter einem Pseudonym: „Tatsachen sind nur an Hand von Kenntnissen und Wissen erkenntnismäßig bewältigbar, Wissen führt nur in ständiger Konfrontation mit den Tatsachen von der Interpretation zur Handlung“. Auch wenn das Zitat damals einen politischeren Bezugspunkt hatte, steht es rückblickend für die Geisteshaltung, die Jahoda in ihrer Forschungsarbeit angeleitet hat.

Die realen Probleme der Menschen im Blick

Dafür steht auch die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes ihrer Dissertation. Sie erforschte die Lebensverläufe von Menschen, die um 1930 in den Versorgungshäusern lebten. Zu diesem Zweck erweiterte sie den methodischen Zugang ihrer Betreuerin Charlotte Bühler, die ihre Theorie über systematische Aspekte des menschlichen Lebenslaufes vorwiegend aus Biografien gut situierter Männer erarbeitet hatte, um zu überprüfen, ob diese Theorie auch unter den Lebensbedingungen der einfachen Leute funktioniert. In den 52 Interviews wird deutlich, wie sehr das Leben der arbeitenden Klasse von Brüchen gezeichnet und fremdbestimmt war.

Mut beweisen

Ein anderes Beispiel für Jahodas Zugang zur wissenschaftlichen Arbeit findet sich in den 1950er-Jahren, als sie an der New York University forschte. Es war der Höhepunkt der McCarthy-Ära, benannt nach dem Senator Joseph McCarthy, der im beginnenden Kalten Krieg Wortführer der antikommunistischen Bewegung in den USA war. Marie Jahoda schien als sozialistischer Flüchtling aus Österreich sicherlich nicht unverdächtig und wurde möglicherweise selbst überwacht, was sie aber nicht daran hinderte, sich als eine der ersten SozialwissenschaftlerInnen systematisch mit den Auswirkungen dieser Politik und der gesellschaftlichen Stimmung in den USA auseinanderzusetzen. Sie kritisierte in einer Studie gemeinsam mit Stuart W. Cook die Schaffung eines geistigen Klimas, das ideologische Unterwürfigkeit und Konformität erzeuge. Hier zeigt sich, dass Marie Jahoda auch als politischer Flüchtling nicht von ihrer politischen Grundhaltung und dem Fokus auf ganz konkrete, gesellschaftlich relevante Fragestellungen in ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin abrückte.

Marie Jahoda zeichnet ihre besondere Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand und die Kreativität in der Methodenwahl als Wissenschaftlerin aus – Eigenschaften, die im heutigen Wissenschaftsbetrieb aus systemischen Zwängen immer seltener werden, aber gerade der sozialwissenschaftlichen Forschung im Sinne ihrer Praxisrelevanz sehr guttäten. Auch die zentrale Frage ihrer Dissertation nach der sozialen Absicherung und Teilhabe an der Gesellschaft hat nichts an Aktualität verloren und bleibt auch heute eine immanent politische und gesellschaftliche Herausforderung.

Lesen. Leben. Forschen.

Auf www.mariejahoda.at gibt es einen Überblick über ihr Leben, ihre wichtigsten Forschungsthemen und die Möglichkeit, ihre bisher unveröffentlichte Dissertation „Lebengeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klasse“ zu bestellen.

Bildnachweis: AGSÖ
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