„Es blieb fast kein Stein auf dem anderen“

Eva Zeglovits, Geschäftsführerin des IFES Forschungsinstituts, im Interview über die vergangene Nationalratswahl und verwunderliche Erkenntnisse daraus.

Die vergangenen Nationalratswahlen im Herbst 2017 brachten einen politischen Umbruch mit sich – wie ist das Ergebnis zu erklären?
 
Zeglovits: Das Wahlergebnis ist nur ein Ausdruck dessen, was sich in den Monaten davor in den Parteien an Umbrüchen getan hat. Es blieb ja in den Parteien fast kein Stein auf dem anderen. Nach dem desaströsen Abschneiden der Kandidaten von ÖVP und SPÖ im ersten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl 2016 gab es zunächst in der SPÖ den Wechsel an der Spitze. Im Frühjahr 2017 übernahm dann Kurz die ÖVP und änderte deren Erscheinungsbild, dann trat Eva Glawischnig zurück, und schließlich gründete Peter Pilz seine eigene Liste. Mit dem personellen Wechsel waren teilweise starke inhaltliche Neuausrichtungen der Parteien verbunden, am stärksten sichtbar war das bestimmt bei der ÖVP als Liste Kurz, wo das Thema Zuwanderung sehr viel Raum bekam. Dass diese Änderungen in den Parteien dann auch zu Änderungen in den Wählerpräferenzen führen, ist nicht weiter verwunderlich.
 
Was war verwunderlich aus Sicht der Marktforschung?

Zeglovits: Spannend zu beobachten während des Wahlkampfes waren die starken Schwankungen in der Deklarationsrate im Wahlkampf, also wie stark der Anteil der Menschen schwankte, die sich bereits für eine Partei entschieden hatten. Ganz vereinfacht gesagt kann man zusammenfassen, dass die Unentschlossenheit stieg, als die Causa Silberstein Ende August erstmals berichtet wurde, dann ging sie wieder zurück. Der zweite Teil der Causa Silberstein - Stichwort Facebook Seiten - ließ die Unentschlossenheit nochmal sehr stark ansteigen, und das zu einem sehr späten Zeitpunkt im Wahlkampf. Normalerweise treffen im Laufe des Wahlkampfes immer mehr Menschen eine Entscheidung, diesmal waren durch die Debatte um Wahlkampfstil und Wahlkampfführung viele Menschen kurz vor der Wahl noch einmal irritiert, und überdachten ihre Entscheidung noch einmal. Schlussendlich gelang es den Parteien aber, und hier insbesondere der SPÖ, in den letzten Tagen doch noch deutlich zu mobilisieren und Menschen zu überzeugen.
 
Entgegen dem Trend der letzten Jahre stieg die Wahlbeteiligung auf hohe 80 Prozent an. Gibt es eine Erklärung dafür?
 
Zeglovits: Für die gestiegene Wahlbeteiligung gibt es zumindest drei Erklärungsansätze. Zunächst war das Angebot an Parteien durch die Kandidatur beispielsweise der Liste Pilz vielfältiger, und einige der SpitzenkandidatInnen 2017 wurden von den WählerInnen sehr positiv bewertet, Kurz und Kern etwa haben wesentlich bessere Imagewerte als ihre Vorgänger Spindelegger und Faymann 2013. Bei früheren Nationalratswahlen hatten manche WählerInnen den Eindruck, es wäre irrelevant, wer wie viele Stimmen bekommt, weil es ohnehin wieder auf eine Koalition von SPÖ und ÖVP hinauslaufen werde. Das war bei dieser Wahl anders - je nach Wahlausgang standen verschiedene Koalitionsformen im Raum. Darüber hinaus wurde im Wahlkampf diskutiert, welche der sogenannten "kleinen" Parteien die Vierprozenthürde überschreiten würden. Ein knappes Rennen oder auch ein vermeintlich knappes Rennen heben die Wahlbeteiligung, weil der Eindruck gestärkt wird, dass die eigene Stimme Auswirkung auf das Wahlergebnis hat.  Durch die Debatte um Negative Campaigning, also Wahlkampf zum Thema Wahlkampfstil, hätte man eigentlich auch einen Rückgang der Wahlbeteiligung erwarten können, weil das etwas ist, was WählerInnen normalerweise wenig begeistert, und darüber hinaus den Eindruck erweckt, Politik sei ein schmutziges Geschäft. Da aber gerade auch die SPÖ, die im Fokus dieser Debatte stand, es geschafft hat, NichtwählerInnen zu mobilisieren, kann man davon ausgehen, dass die anderen Effekte, also die Qualität des Angebots und der Eindruck des knappen Rennens in Verbindung mit offenen Koalitionsvarianten, stärker waren.
 
Seit Jahren ist zu erkennen: WählerInnen werden immer mobiler. Auf welcher Basis treffen die ÖsterreicherInnen ihre Wahlentscheidungen?
 
Zeglovits: Grundsätzlich gilt: Jeder Mensch entscheidet anders. Es gibt das idealtypische Bild des "rationalen Wählers", der sich die inhaltlichen Positionen der Parteien genau anschaut, mit den eigenen Positionen vergleicht, und dann die Partei wählt, die am ehesten seine eigenen Positionen vertritt. Solche WählerInnen und Wähler gibt es bestimmt, aber nicht jeder entscheidet so. Ein Arbeiter wählte rot, ein Bauer wählte schwarz. Die Erklärungskraft der sozialen und ökonomischen Faktoren auf das Wahlverhalten ist in Österreich zwar immer noch vorhanden, aber heute viel schwächer ausgeprägt als vor 50 Jahren. Andere Menschen wählen eine Partei, weil sie jemand Dritter darauf angesprochen und davon überzeugt hat. Und wieder andere Menschen lassen sich stärker von Emotionen mobilisieren. Wenige Menschen entscheiden strategisch, sie wählen etwa Partei A, obwohl sie Partei B besser finden, damit Partei C nicht stärkste Kraft wird. Für die meisten Wählerinnen und Wähler ist es wohl eine Mischung aus inhaltlichen Positionen, personellem Angebot, der Kampagne, der eigenen sozialen Position und dem Umfeld.

 Welche Erkenntnisse aus der Nationalratswahl 2017 sollten sich politische AkteurInnen für die Zukunft mitnehmen?
 
Zeglovits: Es gibt viele vermeintliche Regeln und Muster in Wahlkämpfen. Der Nationalratswahlkampf 2017 hat gezeigt, dass Muster und Regeln nicht notwendigerweise gelten.

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