Wir stellen die Weichen in und für Brüssel

Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft hat den Frieden zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg gesichert und einzementiert. Das ist keine leere Floskel, die Politikerinnen und Politiker gerne für ihre Sonntagsreden hervorkramen: Es ist schlichtweg die Wahrheit und sollte niemals vergessen werden. Soweit der Blick zurück.

Dieser Artikel wird sich jedoch mit der Zukunft Europas beschäftigten und mit jenen, die darüber entscheiden: mit uns. Zukunftsentscheidungen benötigen auch immer die richtigen „Weichenstellungen“. Diese Funktion haben die Wahlen zum Europäischen Parlament inne. Sie finden – je nach Mitgliedsland – zwischen 23. und 26. Mai 2019 statt. Österreich wählt am 26. Mai. Die Europäische Union (EU) wirkt auf uns abstrakt – und das oft zu Recht. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Union mit ihren Handlungsmöglichkeiten an ihre Grenzen gebracht; viele Menschen sind 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ernüchtert und haben das Vertrauen in dieses Europa verloren. Sparprogramme, die Zunahme von Armut und die nach wie vor zu hohe Arbeitslosigkeit in vielen Mitgliedsstaaten schüren tatsächlich berechtigte Zweifel, wie das Europa von heute seine Probleme und Herausforderungen von morgen lösen kann. Die EU kann und soll auch künftig nicht alles regeln und sich in alle Lebensbereiche einmischen. In einer immer komplexeren und schnelllebigeren Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bedarf es aber ausgewählter Kompetenzfelder, wo ein Eingreifen der Union wichtiger ist denn je; wo gerade eine supranationale Gemeinschaft am besten geeignet ist, Handlungsspielräume und Regeln im Interesse der Mehrheit der Europäerinnen und Europäer zu schaffen. Am Beispiel von Industrie und Handel sollen exemplarisch zwei Beispiele genannt werden, die dafür geeignet erscheinen.

Eine starke Industrie für nachhaltiges Wachstum

Die Wirtschaftskrise hat gezeigt: Mitgliedsstaaten mit einer immer noch gut ausgebauten und funktionierenden Industrie stehen besser da als solche, die in den vergangenen Jahrzehnten den Weg der De-Industrialisierung eingeschlagen haben. Während in Österreich oder Deutschland 2018 immer noch über ein Viertel des Volkseinkommens durch den industriellen Sektor erwirtschaftet wird, sind es in Großbritannien oder Frankreich deutlich unter 20 Prozent der Wirtschaftsleistung. Vor allem waren Staaten mit einer soliden Industrie in den letzten Jahren auch weniger stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Industrieregionen spielen daher gerade im 21. Jahrhundert eine essenzielle Rolle. Am Beispiel von Linz zeigt sich das deutlich: Als eine der wenigen Städte wurden hier die richtigen Konsequenzen aus der Krise der (Stahl-)Industrie in den 1980er-Jahren gezogen und vor 30 Jahren die zukunftsweisende Entscheidung getroffen, den Standort des voestalpine-Stahlwerkes nicht aufzugeben. Das Ziel ist also klar: Europa braucht eine Kehrtwende, eine Re-Industrialisierung; denn nur eine starke Industrieproduktion schafft nachhaltiges Wachstum. Die Europäische Union kann hierfür die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehören einerseits eine echte Regulierung des Finanzsektors, sodass Investitionen in die Realwirtschaft wieder Vorrang genießen und andererseits eine Beendigung des ruinösen (Steuer-)Wettbewerbs zwischen den Mitgliedsstaaten. 85 Prozent des gesamten Handels mit Waren und Dienstleistungen laufen innerhalb der EU ab – eine Stärkung des Binnenmarkts sowie des Binnenkonsums bleibt daher ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel.

Europa muss auf fairen Wettbewerb pochen

Zu einer zukunftsorientierten Wirtschafts- und Industriepolitik gehört auch eine Politik, die faire Wettbewerbs- und Qualitätsstandards setzt, Menschen und Beschäftigte schützt und Rücksicht auf Umwelt und Klima nimmt. Als Alternative zur derzeitigen Handelspolitik könnte zum Beispiel das Konzept der „Zivilisierten Märkte“ fungieren. Es sieht die Gründung einer europäischen Aufsichtsagentur für Handelswaren vor, die Mindeststandards für die auf dem europäischen Markt verkauften Güter durchsetzt. Diese Mindeststandards sollten sich dabei sowohl auf Arbeitsbedingungen als auch auf Nachhaltigkeits- und Qualitätsstandards beziehen. Für die Erfüllung dieser Standards wird eine angemessene Frist gesetzt, nach deren Ablauf dann alle angebotenen Produkte diese Standards erfüllen müssen. Sobald die Standards verpflichtend werden, beginnt der Prozess von neuem. Dieser Vorschlag erweitert die bestehende EU-Regulierung beziehungsweise die EU-Mindeststandards für Produkte um einen wesentlichen Aspekt: Es wird nicht nur wie aktuell die Produktqualität für die EndverbraucherInnen normiert und kontrolliert, sondern es werden auch die Umwelt- und Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern selbst in den Fokus genommen. Werden dabei zum Beispiel Sicherheits- oder Umweltstandards nicht eingehalten, werden die Unternehmen beraten, gemahnt und verlieren bei wiederholter Nichteinhaltung den Zugang zum europäischen Markt. Die Größe und Attraktivität des europäischen Marktes wird dabei in die Waagschale geworfen, um den multinationalen Konzernen die Stirn zu bieten und global die Produktionsbedingungen zu verbessern. Gleichzeitig leistet die Agentur ihren Beitrag, europäische Waren konkurrenzfähiger zu machen.

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