Die NS-Aufarbeitung der Sozialdemokratie

Die NS-Aufarbeitung der Sozialdemokratie 

DerFall des von SPÖ und BSA protegierten Euthanasiearztes Dr. Heinrich Gross hatte um 2002eine heftige mediale Diskussion um die sogenannten „braunenFlecken in der SPÖ zur Folge und veranlasste denneugewähltenParteivorsitzenden Alfred Gusenbauer, eine selbstkritische Erklärungabzugeben und eine wissenschaftliche Aufarbeitung anzukündigen. 

Als eine hauptbetroffene Organisation initiierte der BSA unter dem damaligenPräsidenten Sepp Rieder gegen einige interne Widerstände eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik und beauftragte das DÖW mit einem einschlägigen Projekt.Wir, mein damaliger Kollege Peter Schwarz und ich als Leiter des DÖW,sind ungeachtet unserer Verbundenheit mit der Sozialdemokratie mit einer kritischen und wissenschaftlichen Grundhaltung an das Projekt herangegangen. Die BSA-Präsidenten Sepp Rieder und Caspar Einem haben uns uneingeschränkt unterstützt; es gab nicht die geringste Beeinflussung oder Zensur. Das Projekt wurde innerhalb eines Jahres durchgezogen, und das Buch 2005 präsentiert. Es ist immer noch auf der BSA-Homepage zugänglich. 

 

Aufarbeitungsarbeit 

Unser Ziel waren nicht einzelne braune Flecken, Entlarvungenodermoralisierende Anklagen, sonderndie Darstellung des politisch-gesellschaftlichen Prozesses und die Einbettung in den historischen Zusammenhang mit der Entnazifizierung. Mit dem bis heute gültigen Verfassungsgesetz vom 8. 5. 1945 wurden alle NS-Organisationen und -Tätigkeiten verboten. 540.000 NS-Mitglieder, davon 45.000 „Belastete“, mussten sich registrieren lassen und wurden sanktioniert; neben Gerichtsverfahren erfolgten tausende Entlassungen aus dem öffentlichenDienst. Die Sanktionen wurden allerdings durch Amnestien1948 bis 1955 wieder schrittweise aufgehoben 

Zweite Chancen 

Auf Dauer konnte man eine so große Bevölkerungsgruppe nicht für ewig aus dem politisch-gesellschaftlichen und wirtschaftlichenLeben ausschließen; daher war der Grundgedanke der staatlichen Entnazifizierung und auch der BSA-Beschlüsse richtig, nämlich zwischen Belasteten und Minderbelasteten zu unterscheiden, den jüngeren, einfachen NS-Mitgliedern ohne Blutschuld eine Umkehr zu ermöglichenund nur die belasteten und verbrecherischen Nazis zu ächten. Die Erkenntnis, dass die beiden großen Parteien ÖVP und SPÖ um die ehemaligen Nationalsozialisten buhlten und politischer Opportunismus herrschte, ist an sich nichts Neues. Das Spezifische für die Sozialdemokratie war, dass sie als Regierungspartei viele Posten besetzen konnte, aber durch die Vertreibung bzw. Ermordung der jüdischen Intellektuellen einen eklatanten Akademikermangel hatte.Da man - aus verschiedenenGründen - die meist jüdischen Vertriebenen nicht zurückholen wollte, bediente man sich der ehemaligen Nazis, die dankbar waren, über SPÖ/BSA ihre Reintegration und Nachkriegskarriere schaffen zu können. 

Blinde Flecken 

Die Beschlüsse des BSA auf der Basis der Gesetze nach1945 waren klar und sinnvoll: keine belasteten NS aufnehmen, genaue Prüfung in Einzelfall, keine Nazis als höhere Funktionäre. Sie wurden allerdings nicht eingehalten, auch schwer „Belastetewie Heinrich Gross oder der zahlreiche Todesurteile beantragende NS-Staatsanwalt WalterLillich wurden aufgenommen und gefördert; ehemalige Nationalsozialisten gelangten in höchste Funktionen, u. a. mindestens 6 Minister. Es gab keine internen Diskussionen, es fanden keine echten Überprüfungen statt, falsche Angaben und verschwiegene NS-Zugehörigkeiten wurden akzeptiert. § 27 NS-Gesetz 1947 ermöglichte zehntausendeBegnadigungendurch den Bundespräsidenten; Interventionen erfolgten von höchster Seite (Vizekanzler Adolf Schärf, BSA-Präsident KarlWaldbrunner, Justizminister Christian Broda).  

Versäumnisse 

Die Vorgangsweise, von “Belasteten” keine Glaubhaftmachung ihres Gesinnungswandels, ihrer Einsicht oder ihrer Umkehr gefordert zu haben, stellt aus heutiger Sicht ein schweres Versäumnis dar. An sich war die Hinführung von Menschen, die in ihrer Jugend politisch geirrt hatten, zur Demokratie, die Integration in Beruf, Gesellschaft und Politik demokratiepolitisch durchaus zulässig und notwendig. Offensichtlich wurde aber kein Wert daraufgelegt, eine Abwendung vom nazistischen Gedankengut glaubwürdig zum Ausdruck zu bringen. Stattdessen wurde die NS-Vergangenheit verdrängt, wurden kollektiv alle Österreicher als Opfer hingestellt; wurde auf eine kritische Aufarbeitung der Zeitgeschichte und auf politische Bildung bis in die 1970er Jahre verzichtet, um eine reibungslose Integration der ehemaligen Nationalsozialisten nicht zu gefährden.Wir haben nicht nur die Mechanismen und Methoden dieses Reintegrationsprozesses beschrieben, sondern auch die handelnden Personen detailliert dargestellt. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man nur abstrakt feststellt, dass ehemalige Nazisgefördert wurden, oder konkret Namen, biographische Daten, Interventionen, politische Verantwortliche etc. anführt. Nicht zuletzt darinliegen der Wert und die Brisanz dieser Arbeit. 

Zukunftsblicke 

Während einzelne SPÖ-Funktionäre, namentlich der vormalige BSA-Präsident LeopoldGratz, Kritik übten, und von Nestbeschmutzung, Selbstgeißelung oder taktischemFehler sprachen, war die Aufnahme in der SPÖ, im BSA und in den Medien durchaus positiv. Auch für mich war diese Auseinandersetzung schmerzlich, aber politisch sinnvoll, notwendig und nützlich;denn unser Geschichtsbewusstsein als wichtiger Bestandteil unserer politischen Gesinnung kann nicht auf Dauer auf Unwahrheiten und Verdrängungbasieren 

 

Dr. phil. Wolfgang Neugebauer (geb.1944 in Wien) studierte Geschichte und Geographie, und war ab 1969 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes tätig. 1983-2004 übernahm er die wissenschaftliche Leitung und seit 1995 ist er Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Er publizierte zahlreiche wissenschaftliche Artikel über Widerstand und Verfolgung in der NS-Zeit sowiezuRechtsextremismusnach 1945. „Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten (mit Peter Schwarz), (2004) kanndowngeloaded werden: https://www.bsa.at/einzelpublikationen/der-wille-zum-aufrechten-gang 

 


 

 

zurück